Mindestlohn in Rheinland-Pfalz - Vergabekammer entscheidet! 

 1. „Landesmindestlohn“ in Rheinland Pfalz – doch nicht vergabe- oder EU-rechtswidrig
Die Vergabekammer Rheinland-Pfalz hat in Ihrem Beschluss vom 23.2.2015 (VK 1 –39/14) die Anforderung der Verpflichtungserklärung zur Zahlung des Mindestlohns nach dem Landesgesetz Rhein-Pfalz (8,90 €) als zulässig angesehen, obwohl das OLG Koblenz im Beschluss vom 19. Februar 2014 (1 Verg 8/13) die umstrittene Frage dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt hat. Das „Bundesmindestlohngesetz“ (MiLoG - 8,50 €) steht der Landesregelung nicht entgegen.

 2. Polnische Arbeitnehmer erhalten für Finnland geltenden Mindestlohn

EuGH, Urt. v. 12.2.2015 – C-396/13 – finnischer Mindestlohn für in Finnland tätige polnische Arbeitnehmer entgegen dem nach polnischem Recht geschlossenen Arbeitsvertrag – Begriff des „Mindestlohns“ – Bestandteil des Mindestlohns: Tagegeld (ja); Entschädigung für die tägliche Pendelzeit (ja); die Übernahme der Kosten für die Unterbringung dieser Arbeitnehmer(nein); Essensgutscheine (nein); Vergütung für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs (ja)

Entscheidungen
1. Vergabekammer Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 23.02.2015 - VK 1 - 39/14 – Postdienstleistungen – Mindestlohn (2. Beschluss) - Interimsvergabe (Zuständigkeit der Vergabekammer – Gesamtauftragswert einschließlich Interimswert)
– Aussetzung nach 1. Beschluss und Beschwerde durch OLG Koblenz und Vorlage an EuGH noch nicht entschieden – keine offenkundige Unionswidrigkeit – Bundesmindestlohngesetz mit „allgemeiner Regelung“ des Mindestlohns (8,50 €) – keine Schranke für Landesmindestlohn das Landestariftreuegesetz (LTTG RLP – 8,90 €) - §§ 3 I, 4 II LTTG RLP, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG – amtliche Leitsätze: 1. Ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH führt grundsätzlich nicht zur Nichtanwendbarkeit der vom vorlegenden Gericht als unionsrechtswidrig eingestuften gesetzlichen Regelung. Es gilt die Entscheidung des EuGH abzuwarten, es sei denn, es handelt es sich um einen Fall offenkundiger Unionsrechtswidrigkeit. 2. Das Mindestlohngesetz des Bundes (MiLoG) regelt nur einen allgemeinen Mindestlohn, der „mindestens" zu zahlen ist. In Landesvergabegesetzen können „bessere" Mindestentgelte verbindlich festgesetzt werden. Der Bund hat in der Frage der Entgelthöhe nicht abschließend und erschöpfend von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. 3. In Rheinland-Pfalz sind bei öffentlichen Aufträgen nach den Vorgaben der Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTGvom 28. April 2014 bei der Auftragsausführung 8,90 € zu zahlen.

 

Beschluss

In dem Nachprüfungsverfahren wegen der Vergabe des Auftrags

„Postdienstleistungen für die Stadt L. für den Interimszeitraum vom 01.03.2015 bis 30.11.2015"

pp.

hat die 1. Vergabekammer Rheinland-Pfalz ... am 23. Februar 2015 beschlossen:

1. Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Nachprüfungsverfahrens (Gebühren und Auslagen) einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin.

3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin war notwendig.

Gründe:

I.

Die Antragsgegnerin schrieb bereits am 23. April 2013 den Auftrag „Postdienstleistungen für die Stadt L." für den Zeitraum vom 01. November 2013 bis zum 31. Oktober 2015 europaweit im Offenen Verfahren aus. Es war für die Antragsgegnerin die Möglichkeit vorgesehen, die Vertragslaufzeit durch einseitige Erklärung zweimal um jeweils ein Jahr zu verlängern. Die ausgeschriebenen Leistungen umfassten die Abholung, Beförderung und Zustellung von Briefen, Päckchen und Paketen. Die Gesamtleistung war in zwei Lose aufgeteilt (Los 1: nichtförmliche Zustellung; Los 2: förmliche Zustellung).

Die Antragstellerin wandte sich bei dieser Ausschreibung gegen die Vorgabe in den Vergabeunterlagen, dass die Bestimmungen des Landesgesetzes zur Schaffung tariftreuerechtlicher Regelungen des Landes Rheinland-Pfalz (LTTG) vom 01. Dezember 2010 einzuhalten seien. Nachdem die Antragstellerin mit ihrem Nachprüfungsantrag vor der Vergabekammer nicht erfolgreich war (Beschl. v. 23.10.2013, VK 2-18/13), legte sie gegen die Entscheidung sofortige Beschwerde beim OLG Koblenz ein. Das Verfahren wurde dort aufgrund eines vom Vergabesenat veranlassten Vorabentscheidungsersuchen (EuGH, Rs. C-115/14) mit Beschluss vom 19. Februar 2014 (1 Verg 8/13) bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt. Das OLG Koblenz hat den Gerichtshof um Auslegung ersucht, ob das Unionsrecht landesrechtlichen Regelungen zum vergabespezifischen Mindestentgelt und deren Ausgestaltung entgegenstehe. Der EuGH hat bislang noch nicht über die Vorlagefragen des OLG Koblenz entschieden.

Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz verpflichtete im Nachgang alle öffentlichen Auftraggeber per Rundschreiben vom 20. März 2014 und 17. November 2014 das LTTG auch weiterhin anzuwenden.

Das LTTG enthält folgende für die Entscheidung im vorliegenden Fall relevante Bestimmungen:

§ 3 Abs. 1 LTTG:

„Soweit nicht nach § 4 Tariftreue gefordert werden kann, dürfen öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigen bei der Ausführung der Leistungen ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro (brutto) pro Stunde zu zahlen (Mindestentgelt) und Änderungen des Mindestentgelts aufgrund Rechtsverordnung der Landesregierung nach Absatz 2 während der Ausführungslaufzeit gegenüber den Beschäftigten nachzuvollziehen. Satz 1 gilt nicht für die Leistungserbringung durch Auszubildende. Fehlt die Mindestentgelterklärung bei Angebotsabgabe und wird sie auch nach Aufforderung nicht vorgelegt, so ist das Angebot von der Wertung auszuschließen. Hat die Servicestelle nach § 4 Abs. 5 Muster zur Abgabe von Mindestentgelterklärungen öffentlich bekannt gemacht, können diese verwendet werden."

§ 4 Abs. 2 LTTG:

„Öffentliche Aufträge, die vom Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 802-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. April 2009 (BGBl. I S. 818), in der jeweils geltenden Fassung erfasst werden, dürfen nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung ein Entgelt zu zahlen, das in Höhe und Modalitäten mindestens den Vorgaben der aufgrund von § 4 Abs. 3 MiArbG erlassenen Rechtsverordnung entspricht, an die das Unternehmen aufgrund des Mindestarbeitsbedingungengesetzes gebunden ist."

Die Antragsgegnerin möchte jetzt — bis zur abschließenden OLG-Entscheidung im Hauptverfahren - ihren Interimsbedarf für den Zeitraum vom 01. März 2015 bis zum 30. November 2015 im Wege einer öffentlichen Ausschreibung decken. Der ausgeschriebene Leistungsumfang betrifft die „Abholung, Sortierung, Frankierung, Beförderung und Zustellung von Briefen aller Formate einschließlich nachweispflichtiger Sendungen (Einschreiben) und von Päckchen und Paketen sowie die Zuordnung zu Kostenstellen. Zudem gehören zur Leistungspflicht die Bereitstellung von Transportbehältnissen und eine Adressrecherche."

In den Vergabeunterlagen ist als Anlage E 6 — wie bereits im Ausgangsverfahren - eine „Mustererklärung nach § 3 Abs. 1 LTTG" zur Zahlung des Mindestentgeltes enthalten, die der Bieter zu unterzeichnen hat. Der Vordruck enthält u. a. folgende Verpflichtungserklärung:

„Ich/Wir verpflichte/n mich/uns hiermit:

1. den Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung mindestens das nach der jeweils gültigen Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 des Landestariftreuegesetzes zu zahlende Entgelt (brutto) pro Stunde zu zahlen und Änderungen des Mindestentgelts aufgrund Rechtsverordnung der Landesregierung nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTG während der Ausführungslaufzeit gegenüber den Beschäftigten nachzuvollziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 LTTG). Dies gilt nicht für eine Leistungserbringung durch Auszubildende. (…)."

Der Mindestlohn nach LTTG liegt nach den Vorgaben der Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTG vom 28. April 2014 aktuell bei 8,90 €. Es gilt zudem das Bundesgesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz — MiLoG), das am 16. August 2014 im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz, TarifAutStG) in Kraft getreten ist. Ziel des MiLoG ist es, einer zunehmenden Verbreitung von unangemessen niedrigen Löhnen entgegenzuwirken (BT-Drucks. 17/1558, S. 2). Das Gesetz sieht — abgesehen von Ausnahmeregelungen — einen Mindestlohnanspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor. Gemäß § 1 Abs. 2 MiLoG beträgt die Höhe des Mindestlohns ab dem 01. Januar 2015 brutto 8,50 € je Arbeitszeitstunde.

Die Antragstellerin, deren Geschäftsbetrieb auf die Erbringung von Postdienstleistungen ausgerichtet ist, hat die streitgegenständlichen Dienstleistungen in den vergangenen Jahren für die Antragsgegnerin erbracht. Sie sieht sich an der Abgabe eines Angebots für die Interimsvergabe wegen der geforderten Abgabe einer Verpflichtungserklärung nach § 3 Abs. 1 LTTG gehindert.

Nachdem die Antragsgegnerin mittels Rügeschreiben vom 25. November 2014 erfolglos versucht hatte, die Antragsgegnerin zur Aufgabe der Forderung zu veranlassen, reichte sie mit Schriftsatz vom 08. Dezember 2014 einen Nachprüfungsantrag bei der erkennenden Vergabekammer ein. Der Nachprüfungsantrag wurde der Antragsgegnerin am 09. Dezember 2014 zugestellt.

Die Antragstellerin hat schließlich im Vergabeverfahren zum Submissionstermin am 09. Dezember 2014 kein Angebot unterbreitet.

Die Antragstellerin ist der Auffassung, die Vergabestelle sei nicht berechtigt, die Abgabe einer Verpflichtungserklärung nach § 3 LTTG zu fordern. Da der vorliegende Auftrag den Leistungszeitraum vom 01. März bis 30. November 2015 betreffe, sei allein das am 16. August 2014 in Kraft getretene MiLoG maßgeblich, das ein abschließendes Verfahrensszenario enthalte und die landesrechtlichen Regelungen gemäß Artikel 31 GG verdränge. In § 4 Abs. 2 LTTG sei auch ein Vorrang von Anordnungen nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) als bundesgesetzliche und damit konkurrierend vorrangige Regelung normiert. Der Bundesgesetzgeber habe mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz das MiArbG aufgehoben und das Mindestlohngesetz mit Wirkung zum 01. Januar 2015 verabschiedet.

In § 19 MiLoG sei außerdem geregelt, unter welchen Bedingungen ein Verfahrensausschluss wegen fehlender Gesetzestreue zu erfolgen habe. Ein solcher Ausschluss sei daran geknüpft, dass gegen einen Bieter rechtskräftig eine Verletzung seiner Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns gemäß § 21 MiLoG mit einem Bußgeldbescheid in Höhe eines Bußgeldes von mindestens 2.500 € festgestellt worden sei. Diese Regelung verdränge ebenfalls landesgesetzliche Regelungen, mit denen über die Forderung nach einer gesonderten Verpflichtungserklärung der Wille oder die Bereitschaft zur Gesetzestreue abgefragt werde.

Die Antragstellerin weist darauf hin, dass im Bereich der Postdienstleistungen keine auftragsspezifische Vergütung der Mitarbeiter erfolge, sondern die Sendungsmengen aller Auftraggeber, also sowohl der privaten als auch der öffentlichen Versender, zu einer Gesamtmenge zusammengefasst und dann zugestellt werden würden. Die Mitarbeiter erhielten eine einheitliche Entlohnung für ihre gesamte Zustellleistung.

Die Antragstellerin bekräftigt, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Basis des Mindestlohns nach MiLoG zu entgelten. Sie lege bei der Kalkulation ihrer Angebote einen Maßstab ab, bei dem die bei ihr tätigen Mitarbeiter durchschnittlich, nach Umrechnung der Stückentgelte in das Zeitäquivalent, eine Vergütung von 9,00 € erhielten. Der kalkulatorische Durchschnittswert sei dabei so gewählt, dass die Mitarbeiter auch noch bei unvorhergesehenen Vorkommnissen nicht unter das gesetzlich vorgesehene Mindestlohnniveau „abrutschten". Es bestehe ein ausreichender Toleranzspielraum zum Mindestlohn des MiLoG. Ein arbeitsvertraglicher Rechtsanspruch auf Zahlung eines Mindeststundenlohnsatzes von 8,90 € bewertet sie jedoch als unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit nach Artikel 12 GG.

Die Antragstellerin betont weiterhin, ihr Kalkulationsschema so ausgerichtet zu haben, dass vorsorglich auch die Lohnhöhe nach § 3 LTTG erreicht werde. Es bestünde allenfalls das Risiko, dass Mitarbeiter, die nicht in der Lage seien, ihre Leistung im Sinne des Durchschnittswertes zu erbringen, unter die Lohnvorstellung von 8,90 € „abrutschen" könnten. Dies könne ggf. mit einem temporären Zuschlag ausgeglichen werden.

Die Antragstellerin stellt den Antrag:

Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, in dem Verfahren Postdienstleistungen Nr. XXX von dem Verlangen in den Vergabeunterlagen Abstand zu nehmen, die als Anlage E6 beigefügte Verpflichtungserklärung durch die Bieter beibringen zu lassen.

hilfsweise: geeignete Maßnahmen zur Verhinderung einer Rechtsverletzung der Antragstellerin zu treffen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gemäß § 128 Abs. 4 GBW wird für notwendig erklärt.

Die Antragstellerin beantragt ferner,

die sofortige Anordnung der Vergabekammer, den Abgabetermin aufzuheben und die Abgabe von Angeboten für die Zeit nach Abschluss dieses Nachprüfungsverfahrens offen zu halten.

Die Antragsgegnerin beantragt:

1. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin vom 08. Dezember 2014 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin wird für notwendig erklärt.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig, weil der streitgegenständliche Auftragswert, den sie auf ca. 98.000 € veranschlagt, unter dem EU-Schwellenwert liege und es an der Zuständigkeit der Vergabekammer fehle. Der Interimsauftrag ersetze nicht den Beschaffungsbedarf der europaweiten Ausschreibung, sondern solle nur die Lücke zur Aufrechterhaltung des laufenden Verwaltungsbetriebs decken. Die Leistungsumfänge seien auch nicht wirtschaftlich und technisch gleichwertig bzw. identisch. Der Interimsauftrag beziehe sich im Gegensatz zur ursprünglichen europaweiten Ausschreibung auch nur auf die Briefpost; die damalige Ausschreibung habe außer der Briefpost auch die förmlichen Zustellungen erfasst.

Der Antragstellerin fehle ferner die Antragsbefugnis nach § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB. Die Antragstellerin habe selber in ihrem Nachprüfungsantrag mitgeteilt, dass sie ihren Angestellten einen Stundenlohn von 9,00 € zahle. Ihr drohe daher durch die Forderung nach Zahlung des LTTG-Mindestlohns kein Schaden.

Darüber hinaus hält die Antragsgegnerin den Nachprüfungsantrag auch für unbegründet. § 4 Abs. 2 LTTG sei entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht anwendbar, da der Verweis auf das MiArbG nicht in einen Verweis auf das MiLoG umgewandelt werden könne. Das MiArbG sei außer Kraft gesetzt worden. Der Gesetzeswortlaut könne nicht abgeändert werden.

Das LTTG sei ein formell und materiell wirksames Gesetz und sie sei verpflichtet, es anzuwenden. Die parallele Existenz sowohl des MiLoG als auch der verschiedenen Landestariftreuegesetze sei politisch gewollt und gesetzessystematisch korrekt. Der Bund beziehe sich bei seinen Mindestlohnregelungen auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das „Arbeitsrecht` nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Das MiLoG habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Anwendbarkeit des LTTG, bei dem es um das „Recht der Wirtschaft" nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehe. Es entfalte insbesondere keine Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber nach Artikel 72 Abs. 1 GG.

Die Verfahrensbeteiligten haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 112 Abs. 1 Satz 3 GWB zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Vergabeakten, die der Vergabekammer vorgelegen haben, sowie auf die zwischen den Beteiligten im Verfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die Antragstellerin ist mit ihrem Nachprüfungsantrag nicht erfolgreich.

1. Die angerufene Vergabekammer ist für die Entscheidung über den Nachprüfungsantrag gemäß §§ 104 Abs. 1, 106 a GWB zuständig, da der ausgeschriebene Auftrag dem Land Rheinland-Pfalz zuzurechnen ist. Bei der Antragsgegnerin handelt es sich um einen öffentlichen Auftraggeber nach § 98 Nr. 1 GWB.

2. Der in §§ 100 Abs. 1, 127 GWB in Verbindung mit § 2 Nr. 1 VgV geltende EU-Schwellenwert in Höhe von 207.000,00 € wird überschritten. Dass die Antragsgegnerin den Schwellenwert für die streitgegenständliche Interimsvergabe mit einem Betrag von ca. 98.000 € angesetzt hat, führt nicht zur Versagung der Zuständigkeit der Vergabekammer. Der Gesamtbeschaffungsbedarf an Postdienstleistungen ist vorliegend in zwei selbständige Vergaben, die Interimsvergabe und die Hauptvergabe, unterteilt. Es handelt sich um fortlaufend notwendige Beschaffungen der Antragsgegnerin, sodass von einem einheitlichen Auftrag mit gleichartigen Leistungen auszugehen ist. Wird der Gesamtbeschaffungsbedarf in mehrere selbständige Vergaben unterteilt, so ist für die Schätzung des Auftragswertes der Wert des Gesamtprojektes zugrunde zu legen (OLG München, Beschl. v. 31.01.2013, Verg 31/12; VK Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 23.10.2013, VK 1-7/14). Dieser Ansatz entspricht auch der Zielsetzung von § 3 Abs. 7 VgV, wonach bei einer Aufteilung einer Beschaffung in mehrere Lose, der Wert aller Lose zusammenzurechnen ist. Die gewählte Form der Interimsvergabe kommt im Ansatz der Bildung eines Loses nahe.

Die ggf. analoge Nutzung des 20%-Kontingents nach § 3 Abs. 7 Satz 5 VgV, die den Auftraggeber in die Lage versetzt, einen Teil lediglich innerstaatlich auszuschreiben und diesen Teil auch einer Überprüfung durch die vergaberechtlichen Spruchkörper zu entziehen, kann zugunsten der Antragsgegnerin schon deshalb keine Anwendung finden, weil der Dienstleistungsauftrag mit einem geschätzten Auftragsvolumen in Höhe von 98.000 € eindeutig über der im Rahmen der Bagatellklausel geforderten Auftragssumme von 80.000 € liegt.

3. Die Antragstellerin hat ihre Rüge, die Antragsgegnerin sei nicht berechtigt, von den Bietern eine Mindestlohnerklärung nach § 3 LTTG zu verlangen, gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB rechtzeitig gegenüber dem Auftraggeber erhoben. Nach dieser Vorschrift sind Verstöße, die aus den Vergabeunterlagen erkennbar sind, spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Angebotsabgabe zu rügen. Ausweislich der Vergabeunterlagen war als Schlusstermin für den Eingang der Angebote der 09. Dezember 2014 benannt. Die Antragstellerin hat mit anwaltlichem Schriftsatz vom 01. Dezember 2014 die Forderung nach einer Mindestlohnerklärung nach § 3 LTTG fristgerecht gerügt.

4. Die Vergabekammer hat in Bezug auf die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags jedoch erhebliche Bedenken, ob die Antragstellerin in Anbetracht der unterlassenen Angebotsabgabe ihrer Schadensdarlegungslast im Sinne des § 107 Abs. 2 GWB hinreichend entsprochen hat. Antragsbefugt ist gemäß § 107 Abs. 2 GWB ein Unternehmen, das ein Interesse an dem Auftrag hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Dabei ist darzulegen, dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Die Antragsbefugnis ist grundsätzlich zu verneinen, wenn eine Antragstellerin ohne hinreichenden Grund von der Abgabe eines Angebots abgesehen hat. Denn im Normalfall begibt sich das Unternehmen dann damit selbst von vornherein jeder Chance, den ausgeschriebenen Auftrag zu erhalten (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 25.05.2000, 1 Verg 1/00; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.01.2009, VII-Verg 59/08). Eine Antragsbefugnis trotz unterlassener Angebotsabgabe kann allerdings ausnahmsweise dennoch zugestanden werden, wenn der Unternehmer gerade durch den gerügten Vergaberechtsverstoß an der Abgabe eines Angebots gehindert worden ist (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.). In diesen Fällen kann es genügen, dass ein Unternehmen die Angebotsunterlagen angefordert hat und durch Stellung eines Nachprüfungsantrages dokumentiert, dass ihm an einem vergaberechtskonformen Fortgang des Vergabeverfahrens unter seiner Beteiligung gelegen ist.

Es erscheint vorliegend im Lichte der vorstehenden Erwägungen durchaus möglich, dass die Antragstellerin trotz der Forderung nach Abgabe einer Tariftreueerklärung gleichwohl in der Lage gewesen wäre, ein Angebot zu unterbreiten. Insoweit bleiben zwei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen hat die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren selber erklärt, dass sie ihren Beschäftigten ein durchschnittliches Entgelt in Höhe von 9,00 € - und damit über dem rheinland-pfälzischen Mindestlohn von 8,90 € liegend - zahlt und ein „Abrutschen" unter den Landestarif im Einzelfall durch einen entsprechenden Zuschuss kompensiert werden könnte. Eine Angebotskalkulation und —abgabe auf der Basis dieser Parameter wäre aus Sicht der Vergabekammer für die Antragstellerin ohne weiteres realisierbar und auch zumutbar gewesen. Zum anderen hat die Antragstellerin im Rahmen der damaligen Hauptausschreibung, bei der ebenfalls Tariftreue nach rheinland-pfälzischem Landesrecht gefordert war, tatsächlich ein Angebot abgegeben, was die Frage aufwirft, ob das Verhalten der Antragstellerin bei der aktuellen Ausschreibung nicht als widersprüchlich einzustufen ist. Die Frage der Antragsbefugnis bedarf jedoch letztendlich keiner abschließenden Entscheidung und kann dahingestellt bleiben, weil der Nachprüfungsantrag im Übrigen in jedem Fall unbegründet ist und der Antragstellerin nicht zum Erfolg verhilft.

5. Der Nachprüfungsantrag ist unbegründet, weil die Antragsgegnerin vergaberechts-gemäß die Abgabe einer Tariftreueerklärung nach § 3 LTTG fordern durfte und die rheinland-pfälzische Tariftreueregelung nicht durch die Regelungen im MiLoG verdrängt wird. Die Antragstellerin ist nicht in ihren Rechten aus § 97 Abs. 7 G1/VB verletzt.

6. Die Vergabekammer hat bereits in ihrem Beschluss vom 23. Oktober 2013, VK 218/13, entschieden, dass die Antragsgegnerin die in Anlage E 6 der Vergabeunterlagen enthaltene Erklärung, den Beschäftigten bei Ausführung der Leistung mindestens das nach der jeweils gültigen Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 LTTG zu zahlende Entgelt pro Stunde zu zahlen, als zusätzliche Bedingung der Auftragsausführung fordern durfte. Auf die dortigen Entscheidungsgründe wird vollumfänglich Bezug genommen.

7. Die Tatsache, dass das OLG Koblenz in seinem Vorlagebeschluss vom 19. Februar 2014 (1 Verg 8/13) „erhebliche Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 3 Abs. 1 LTTG mit dem Unionsrecht" geäußert hat, führt zu keiner anderen Betrachtung. Bei dem LTTG handelt es sich nach wie vor um geltendes Recht. Eine Unionsrechtswidrigkeit der Mindestentgeltforderung ergibt sich bislang aus der Rechtsprechung des EuGH nicht. Eine Entscheidung in dem vom OLG Koblenz angestrengten Vorabentscheidungsverfahren ist bisher noch nicht ergangen.

8. Eine Normverwerfungspflicht für den Fall, dass innerstaatliche Normen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, trifft zwar alle Träger der Verwaltung, auch die Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften (vgl. EuGH, Urt. v. 22.06.1989, Rs. C-103/88, Rn. 30). Die nationalen Verwaltungsbehörden haben jedoch aus Gründen der Rechtssicherheit und drohender Staatshaftung nur in Fällen offenkundiger Unionsrechtswidrigkeit das nationale Recht unangewendet zu lassen (Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, S. 55, Rn. 163 f., m.w.N.). Die Rechtssicherheit gebietet, dass nicht jeder mögliche Verstoß gegen Unionsrecht zur Nichtanwendung der betreffenden nationalen Rechtsnorm führt. Es bestünde in diesem Fall die Gefahr unterschiedlicher Einschätzungen und divergierender Anwendungen innerstaatlicher Normen (vgl. a.a.0). Vorliegend sind keinerlei Anhaltspunkte für einen Fall „offenkundige( Unionsrechtswidrigkeit gegeben, sodass bei der Antragsgegnerin auf kein Normverwerfungsrecht bzw. auf keine Normverwerfungspflicht abgestellt werden kann. Eine Offenkundigkeit ergibt sich in diesem Zusammenhang auch nicht aus der Entscheidung des EuGH vom 18. September 2014 (Rs. C-549/13), weil diese einen offensichtlich anderen Sachverhalt, nämlich die Beteiligung eines Subunternehmers aus Polen, und damit einen grenzüberschreitenden Sachverhalt betrifft und nicht wie hier einen rein innerstaatlichen Vorgang. Die Antragsgegnerin ist daher zwingend zur Anwendung des § 3 LTTG verpflichtet.

9. Entgegen dem Vortrag der Antragstellerin scheitert die Anwendung von § 3 Abs. 1 LTTG weiter auch nicht daran, dass über die Anwendung von § 4 Abs. 2 LTTG die allgemeine landesspezifische Regelung durch die Mindestentgeltregelung nach dem MiLoG verdrängt wird.

Der Landesgesetzgeber hat eine Geltung der allgemeinen Mindestlohnvorschrift für die Fälle ausgeschlossen, in denen die Voraussetzungen des § 4 LTTG vorliegen. Nach dem Wortlaut des § 3 LTTG („soweit nicht nach § 4 Tariftreue verlangt werden kann") besteht die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohnes immer dann, wenn die Voraussetzungen von § 4 LTTG nicht erfüllt sind, d.h. die Mindestentgeltregelung des § 3 LTTG findet keine Anwendung in den Fällen, in denen von den Unternehmen bereits Tariftreue nach § 4 LTTG gefordert werden kann. Dies ist der Fall, wenn ein Tarifvertrag vorliegt, der auf der Basis des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (§ 4 Abs. 1 LTTG) oder des Mindestarbeitsbedingungengesetzes (§ 4 Abs. 2 LTTG) Anwendung findet. Hier verhält sich tariftreu, wer seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rahmen der Auftragsausführung das Entgelt zahlt, das in einem solchen Tarifvertrag festgesetzt ist. In Bezug auf diese Fallkonstellationen hat der Landesgesetzgeber explizit eine vorrangige Anwendung normiert.

10. Die Einlassung der Antragstellerin, das MiLoG sei über § 4 Abs. 2 LTTG als Nachfolgegesetz des Mindestarbeitsbedingungengsetzes (MiArbG) vorrangig anzuwenden, trägt nicht.

Das Mindestarbeitsbedingungengesetz ermöglichte seinerzeit die staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen in Wirtschaftszweigen und Beschäftigungsarten, soweit für diese Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern nicht bestanden oder nur eine Minderheit (unter 50 %) der Arbeitnehmer und Arbeitgeber umfassten. § 1 Abs.1 MiArbG betonte ausdrücklich den Vorrang von frei ausgehandelten Tarifverträgen, sodass von der Zielrichtung her der staatliche Normgeber eher zurückhaltend im Rahmen des MiArbG agieren wollte. In der Praxis hat das Gesetz letztlich keine Bedeutung erlangt hat (BT-Drucks. 18/1558, Begründung, S. 57). Es hat auf dieser Grundlage keine Lohnfestsetzungen gegeben. Das MiArbG ist von seinem inhaltlichen Anwendungsbereich mit der branchenübergreifenden, umfassenden und allgemein verbindlichen Mindestlohnregelung des MiLoG nicht vergleichbar. Der Landesgesetzgeber hat sich in § 4 Abs. 2 LTTG ausdrücklich auf einen Anwendungsvorrang von öffentlichen Aufträgen, die vom MiArbG „in der jeweils geltenden Fassung erfasst werden" bezogen. Die Übertragung auf das MiLoG ist angesichts des klaren Wortlauts und der unterschiedlichen Zielrichtung nicht zulässig. Das MiArbG wurde mit Artikel 14 TarifautStG aufgehoben.

11. Des Weiteren ist mit dem Erlass des MiLoG selbst und der dortigen Festsetzung des Mindestlohns in Höhe von 8,50 € auch keine Sperrwirkung in Bezug auf die landesspezifische Tariftreueregelung nach § 3 Abs. 1 LTTG mit dem geregelten Mindestlohn in Höhe von 8,90 € eingetreten.

Die Bereiche, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen, sind im Katalog von Artikel 74 GG im Einzelnen aufgeführt. Wenn der Bund — wie vorliegend mit dem MiLoG - von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht, kann dadurch eine Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung ausgelöst werden. Dies bedeutet zum einen, dass — vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen Ausnahmevorschrift des Artikel 72 Abs. 3 GG — Landesgesetze, die nach diesem Zeitpunkt erlassen werden, als Konsequenz der Unvereinbarkeit mit der Kompetenzregel des Grundgesetzes nichtig sind (Sannwald in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz Kommentar, 12. Aufl., Artikel 72, Rn. 13, unter Bezugnahme auf BVerfGE 67, 299, 328). Zum anderen ergreift die Nichtigkeit auch die der Sperrwirkung unterliegenden Landesgesetze, die vor der abschließenden bundesgesetzlichen Regelung erlassen wurden (vgl. Stettner in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 31; Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 87). Auf einen konkreten Normwiderspruch im Sinne des Artikel 31 GG kommt es diesen Fällen nicht an, weil sich die Nichtigkeit des im fraglichen Sachbereich erlassenen Landesrechts bereits aus der fehlenden Kompetenz ergibt (Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 87).

12. Eine bundesgesetzliche Regelung, die auf der Grundlage der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz ergangen ist, entfaltet jedoch nicht per se mit ihrem Erlass eine Sperrwirkung, sondern erforderlich ist, dass der Bund mit dieser Regelung die betreffende Materie erschöpfend und abschließend geregelt hat (vgl. BVerfGE 85, 134, 142; Kunig in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 9). Die Frage, ob eine bundesrechtliche Regelung als erschöpfend zu bewerten ist, muss „einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes" entnommen werden (so BVerfGE 7, 342, 347). Entscheidend ist, ob der Bundesgesetzgeber subjektiv ein Sachgebiet so reglementieren wollte und objektiv auch so reglementiert hat, dass daneben kein Raum mehr für eine landesrechtliche Regelung verbleiben sollte (Kunig, a.a.O.). Es ist auf das Bundesgesetz sowie auf den hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, die Gesetzgebungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien abzustellen (BVerfGE 109, 190, 230). In der Vergangenheit wurden abschließende Regelungen zum Beispiel für Regelungen der VwGO, für das notarielle Gebührenrecht, für das Straßenverkehrsrecht im Hinblick auf das Parken, für die Bauleitplanung, für das Kooperationsprinzip im Abfallrecht sowie für die nachträgliche Sicherheitsverwahrung zuerkannt (Stettner in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 29, mit Hinweisen auf die entsprechenden Entscheidungen des BVerfG).

Bei der Gesamtwürdigung ist ebenfalls die Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung im Sinne der Artikel 70 GG als Umstand so mit zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz die Kompetenz der Länder als den Regelfall einstuft (Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 75). In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass in Zweifelsfällen eine Vermutung zugunsten der Zuständigkeit der Länder und nicht zugunsten einer Bundeskompetenz greift (BVerfGE 42, 20, 28). Für die Annahme einer abschließenden Wirkung verlangt das Bundesverfassungsgericht eine „eindeutige" Aussage des Bundesgesetzgebers (vgl. Oeter, a.a.O., mit Hinweis auf BVerfGE 49, 343, 359 f.).

Ergänzend bleibt in diesem Sinne anzumerken, dass mit dem 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die aktuelle Regelung des Artikel 72 Abs. 1 GG Eingang in das Grundgesetz gefunden. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder gemäß Artikel 72 Abs. 1 GG die Gesetzgebungsbefugnis, solange und soweit der Bund nicht von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat. Nach der Gesetzesbegründung soll mit der Neuregelung klargestellt werden, dass nur bei entsprechenden Anhaltspunkten in der bundesgesetzlichen Regelung die Schlussfolgerung zulässig sei, der Bund habe abschließend von seiner Zuständigkeit Gebrauch machen wollen (so BT-Drucks. 12/6633, S. 8).

13. Vorliegend lässt sich unter Berücksichtigung dieser grundsätzlichen Erwägungen eine abschließende Regelungsintention des Mindestlohngesetzes weder aufgrund seines ausdrücklichen Wortlauts noch im Wege der Auslegung entnehmen.

14. Das MiLoG und das LTTG fußen auf unterschiedlichen Kompetenznormen. Während der Bund seine Regelungskompetenz für das MiLoG auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das „Arbeitsrecht" nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützt (BT-Drucks. 18/1558, Begründung, S. 29), unterliegt das Vergaberecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht als „Recht der Wirtschaft" der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (BVerfG, VergabeR 2007, 42, 48).

Der Bund hat hier zwar durch den 4. Teil des GWB von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, aber in § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB ausdrücklich die Länder zum Erlass von Gesetzen, die die Bedingungen zur Ausführung öffentlicher Aufträge betreffen, ermächtigt. Gemäß Satz 2 der Vorschrift sind Auftraggeber berechtigt, zusätzliche in einem sachlichen Zusammenhang zum Auftragsgegenstand stehende, insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte, zu stellen. Andere oder weitergehende Anforderungen dürfen gestellt werden, soweit dies in einem Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist. Das BVerfG hat diese Vorgaben so interpretiert, dass die Regelung solcher Kriterien durch den Landesgesetzgeber grundsätzlich möglich sein soll (BVerfG, a.a.O.). Die Öffnungsklausel macht deutlich, dass der Gesetzgeber selber davon ausgegangen ist, von seinem Gesetzgebungsrecht im Vergaberecht nicht abschließend Gebrauch gemacht zu haben und zusätzliche landesspezifischen Regelungen nicht ausschließen zu wollen. Bundesrechtliche Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch zulässig (vgl. z. B. BVerfGE 20, 238, 251). Der ausdrückliche Vorbehalt kann als Indiz dafür gewertet, dass der Bund gerade keine erschöpfende und damit abschließende Regelung treffen wollte.

Das MiLoG und das LTTG weisen zudem unterschiedliche Zielrichtungen auf. Während das MiLoG einen unmittelbaren Rechtsanspruch der Beschäftigten gegen ihre Arbeitgeber begründen, handelt es sich bei der LTTG-Verpflichtung um einen vertraglichen Anspruch des öffentlichen Auftraggebers gegen den Auftragnehmer, dass dieser seinen Beschäftigten eine bestimmte Entgelthöhe bei der Auftragsausführung zukommen lässt.

Zu berücksichtigen bleibt ferner, dass das TarifAutStG selber eine Verdrängung des gesetzlichen Mindestlohns zugunsten eines „besseren" Mindestlohns. kennt. Nach § 1 Abs. 3 MiLoG sind die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes mit der Einschränkung unangetastet, dass die Mindestlohngrenze nach § 1 Abs. 2 MiLoG nicht unterschritten wird. In der Gesetzesbegründung findet sich zu Absatz 3 der genannten Vorschrift insoweit die ausdrückliche Klarstellung: „Der allgemeine Mindestlohn bildet ab dem 1. Januar 2017 eine unterste Grenze, die auch von Branchenmindestlöhnen nicht unterschritten werden darf. Im Übrigen gehen die für die Branchenmindestlöhne geltenden Regelungen den Regelungen des allgemeinen Mindestlohns vor" (BT-Drucks. 18/1858, S. 34). In diesen Kontext passt des Weiteren auch der Appell in der Gesetzesbegründung (a.a.O., S. 28): „Im Übrigen bleiben Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu aufgerufen, über die Organisation in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und den Abschluss von Tarifverträgen eine angemessene Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am von den Unternehmen Erwirtschafteten zu erreichen".

In diesem Sinne ist die Festlegung des Bundesmindestlohns in Höhe von 8,50 € nur als „Mindeststandard" mit der Maßgabe zu verstehen, dass unterhalb dieser Schwelle keine Spielräume für abweichende, niedrigere Entgelte bestehen. Nach oben hin sind landesspezifische oder tarifvertragliche Abweichungen generell zulässig. Der. Landesgesetzgeber ist daher für den Bereich des öffentlichen Auftragswesens nach wie vor berechtigt, mit landesspezifischen Regelungen über den bundesgesetzlichen Mindeststandard hinaus zu gehen.

Im Ergebnis „sperrt" damit das Mindestlohngesetz des Bundes die Gesetzgebungskompetenz der Länder in der Frage der Mindestentgelthöhe nicht. Ein höherer Mindestlohn, sei es aufgrund von landesrechtlichen oder aufgrund von tarifvertraglichen Regelungen, beansprucht Vorrang vor dem bundesgesetzlichen Mindestentgelt. Es sind damit im Ergebnis keine hinreichenden Anhaltspunkte in der bundesgesetzlichen Regelung erkennbar, die den Schluss zulassen, der Bund habe abschließend von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen wollen. § 3 LTTG ist somit die kompetentielle Grundlage nicht entzogen.

15. Der Nachprüfungsantrag war vor diesem Hintergrund sowohl in Bezug auf den Hauptantrag als auch in Bezug auf den Hilfsantrag zurückzuweisen. Dem weiteren Antrag auf Aussetzung des Submissionstermins war — losgelöst von der Tatsache, dass sich der Antrag infolge Zeitablaufs bereits erledigt hatte - ebenfalls nicht zu entsprechen, weil die Durchführung der Angebotsöffnung nicht schadensursächlich für eine nachteilige Rechtsposition der Antragstellerin war. Soweit die Antragstellerin mit ihrem Nachprüfungsantrag erfolgreich gewesen wäre, hätte ihren Interessen durch die dann notwendige Rückversetzung des Verfahrens in den Stand vor Angebotsabgabe vollumfänglich Rechnung getragen werden können. Im Sinne des Beschleunigungsgebots war die Fortführung des Vergabeverfahrens sowohl zulässig als auch geboten.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 128 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 und 2 GWB.

Die Gebühren und Auslagen der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin sind erstattungsfähig, da die Hinzuziehung ausnahmsweise notwendig war. Ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten auf Seiten der Vergabestelle notwendig war, ist bezogen auf den Zeitpunkt der Vollmachtserteilung aus einer ex-ante Sicht zu beurteilen. Abzustellen ist darauf, ob ein verständiger Beteiligter unter Beachtung seiner Pflicht, die Kosten so gering wie möglich zu halten, die Beauftragung eines Bevollmächtigten für notwendig halten durfte (OLG Koblenz, Beschl. v. 12.06.2009, 1 Verg 4/09 und 1 Verg 5/09). Wie jeder Amtsträger die zur Führung seines Amtes notwendigen Rechtskenntnisse haben oder sich verschaffen muss (BGH, MDR 2000, 383), ist von einer Vergabestelle zu erwarten, dass ihre Mitarbeiter die maßgeblichen Rechtsvorschriften kennen, die mit einer Auftragsvergabe verbundenen Rechtsfragen auch schwieriger Art, beantworten können sowie in der Lage sind, ihren Standpunkt in dem vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägten Verfahren vor der Vergabekammer zu vertreten (st. Rspr. OLG Koblenz; vgl. nur Beschl. v. 12.06.2009, 1 Verg 5/09; Beschl. v. 21.09.2000, 1 Verg 3/00, Beschl. v. 21.09.2000, 1 Verg 2/99). Die Ausstattung mit entsprechendem Fachwissen ist unabdingbare Voraussetzung für die ordnungsgemäße Erfüllung der bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu bewältigenden Aufgabe (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.). Daraus folgt, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in aller Regel dann nicht als notwendig anzuerkennen ist, wenn im Nachprüfungsverfahren vergabespezifische Vorschriften des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers zur Diskussion stehen (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.).

Allerdings ist es damit nicht ausgeschlossen, dass in einem Verfahren, in dem ungewöhnlich umfangreiche oder komplizierte Sachverhalte zur Prüfung anstehen, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ausnahmsweise notwendig sein kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 21.9.2000, 1 Verg 3/00). Vorliegend handelt es sich um einen Fall, in dem primär unionsrechtliche- und verfassungsrechtliche Fragestellungen streitgegenständlich waren. Derartige Spezialkenntnisse können von einer Vergabestelle nicht zwingend erwartet werden, weswegen die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes aus einer ex-ante-Sicht ausnahmsweise als notwendig erscheinen musste.

2. EuGH Urt. v. 12.2.2015 – C-396/13 – finnischer MindestlohnArt. 56 AEUV und 57 AEUV –Richtlinie 96/71/EG – Art. 3, 5 und 6 – Bei einem Unternehmen mit Sitz im Mitgliedstaat Polen beschäftigte Arbeitnehmer, die zur Ausführung von Arbeiten in den Mitgliedstaat Finnland entsandt worden sind, haben Anspruch auf im Mitgliedstaat Finnland tarifvertraglich festgelegten Mindestlohn – Klagebefugnis einer Gewerkschaft, die ihren Sitz im Mitgliedstaat B hat – Vorschriften des Mitgliedstaats A, die eine Übertragung von Lohnforderungen an Dritte verbieten -


Urteil

In der Rechtssache C 396/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Satakunnan käräjäoikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 12. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 2013, in dem Verfahren

Sähköalojen ammattiliitto ry

gegen

Elektrobudowa Spółka Akcyjna

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 56 AEUV und 57 AEUV, der Art. 12 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta), des dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, von Art. 3, Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18, S. 1) sowie von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6, und Berichtigung ABl. 2009, L 309, S. 87).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Sähköalojen ammattiliitto ry (im Folgenden: Sähköalojen ammattiliitto), einer finnischen Gewerkschaft für den Elektrizitätssektor und Elektrobudowa Spółka Akcyjna (im Folgenden: ESA), einem in Polen ansässigen Unternehmen, über Lohnforderungen aus Beschäftigungsverhältnissen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 96/71 sieht vor:

(1) Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.

(3) Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

b) einen Arbeitnehmer in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht …

…“

4 Art. 3 („Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen,

festgelegt sind:

b) bezahlter Mindestjahresurlaub;

c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze …

Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

(7) Die Absätze 1 bis 6 stehen der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen.

Die Entsendungszulagen gelten als Bestandteil des Mindestlohns, soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt werden.

(8) Unter ‚für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen oder Schiedssprüchen‘ sind Tarifverträge oder Schiedssprüche zu verstehen, die von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind.

…“

5 Art. 5 („Maßnahmen“) der Richtlinie sieht vor:

Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor.

Sie stellen insbesondere sicher, dass den Arbeitnehmern und/oder ihren Vertretern für die Durchsetzung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete Verfahren zur Verfügung stehen.“

6 Art.6 („Gerichtliche Zuständigkeit“) dieser Richtlinie lautet:

Zur Durchsetzung des Rechts auf die in Artikel 3 gewährleisteten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen kann eine Klage in dem Mitgliedstaat erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt ist oder war; dies berührt nicht die Möglichkeit, gegebenenfalls gemäß den geltenden internationalen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit in einem anderen Staat Klage zu erheben.“

7 Der Anhang der Richtlinie 96/71 enthält die Liste der in Art. 3 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie genannten Tätigkeiten. Diese umfassen alle Bauarbeiten, die der Errichtung, der Instandsetzung, der Instandhaltung, dem Umbau oder dem Abriss von Bauwerken dienen, wie sie in diesem Anhang aufgeführt sind.

Finnisches Recht

8 Kapitel 2 § 7 des Arbeitsvertragsgesetzes (Työsopimuslaki [55/2001]) bestimmt:

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, zumindest die Bestimmungen eines als repräsentativ für die betreffende Branche angesehenen inländischen Tarifvertrags (allgemeinverbindlicher Tarifvertrag) über die Vertrags- und Arbeitsbedingungen des Arbeitsverhältnisses, die die vom Arbeitnehmer erbrachte Arbeit oder eine dieser am ehesten vergleichbare Arbeit betreffen, einzuhalten.

Eine Klausel eines Arbeitsvertrags, die im Widerspruch zu der entsprechenden Bestimmung des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags steht, ist nichtig, und an ihre Stelle tritt die Bestimmung des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags.

…“

9 § 2 Abs. 4 des Arbeitnehmerentsendegesetzes (Laki lähetetyistä työntekijöistä [1146/1999]) sieht vor:

Entsandten Arbeitnehmern … ist der Mindestlohn zu zahlen. Als Mindestlohn gilt die Vergütung, die in einem Tarifvertrag im Sinne von Kapitel 2 § 7 des Arbeitsvertragsgesetzes festgelegt ist …“

10 Einschlägige Tarifverträge im Sinne des Kapitels 2 § 7 des Arbeitsvertragsgesetzes sind die Tarifverträge für die Stromwirtschaftsbranche und den Bereich Elektroinstallationsarbeiten der Haustechnikbranche. Diese betreffen im Anhang der Richtlinie 96/71 genannte Tätigkeiten. Sie sind allgemeinverbindlich im Sinne von Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie 96/71. Sie enthalten Bestimmungen, die eine Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, die Gewährung von Urlaubsgeld, die Zahlung eines Tagegelds und einer Wegezeitentschädigung vorsehen, sowie Bestimmungen über die Unterbringungskosten.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11 ESA, ein Unternehmen mit Sitz in Polen, ist in der Elektrobranche tätig und hat eine Zweigniederlassung in Finnland.

12 Für die Ausführung von Elektroarbeiten auf der Baustelle des Kernkraftwerks Olkiluoto in Eurajoki (Finnland) schloss ESA in Polen nach polnischem Recht Arbeitsverträge mit 186 Arbeitnehmern.Diese wurden an die finnische Zweigniederlassung von ESA entsandt. Sie wurden auf der Baustelle in Olkiluoto beschäftigt und waren in Wohnungen in Eurajoki etwa 15 Kilometer von der Baustelle entfernt untergebracht. Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens besteht Uneinigkeit über die von den Arbeitnehmern für den täglichen Weg von ihrer Unterkunft zur Baustelle und zurück aufgewandte Zeit.

13 Da die betroffenen Arbeitnehmer der Auffassung sind, dass ESA ihnen nicht den Mindestlohn gezahlt habe, der ihnen gemäß den nach dem Unionsrecht anwendbaren finnischen Tarifverträgen für die Stromwirtschaftsbranche und für die Haustechnikbranche zustehe, haben sie ihre Forderungen einzeln zur Einziehung auf Sähköalojen ammattiliitto übertragen.

14 Vor dem vorlegenden Gericht trägt Sähköalojen ammattiliitto vor, dass diese Tarifverträge eine Berechnung des Mindestlohns der Arbeitnehmer nach für diese günstigeren Kriterien als den von ESA angewandten vorsähen. Diese Kriterien beträfen u. a. die Art der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, der Einordnung einer Vergütung als Zeit- oder Akkordlohn und der Gewährung von Urlaubsgeld, Tagegeld und Wegezeitentschädigung sowie die Übernahme der Unterbringungskosten der Arbeitnehmer.

15 Daher beantragte Sähköalojen ammattiliitto mit Klagen vom 8. August 2011 und vom 3. Januar 2012, die ESA zu verurteilen, an sie insgesamt 6 648 383,15 Euro nebst Verzugszinsen wegen der an sie abgetretenen Forderungen zu zahlen.

16 ESA beantragte die Abweisung der Klagen. Sie machte u. a. geltend, dass Sähköalojen ammattiliitto nicht befugt sei, im Namen der entsandten Arbeitnehmer zu klagen, weil das polnische Recht die Übertragung von Forderungen aus einem Arbeitsverhältnis verbiete.

17 Auf Antrag von Sähköalojen ammattiliitto ordnete das vorlegende Gericht an, das Vermögen von ESA zur Sicherung ihrer Forderung im Wege des Arrests bis zu einem Wert von 2 900 000 Euro zu beschlagnahmen. Nachdem die Arrestverfügung rechtskräftig geworden war, hinterlegte ESA bei der zuständigen Behörde eine Bankbürgschaft in dieser Höhe, die bis zum 30. September 2015 gilt.

18 Da das Satakunnan käräjäoikeus (erstinstanzliches ordentliches Gericht der Region Satakunta) hinsichtlich der Auslegung von Unionsrecht, insbesondere von Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV im Zweifel ist, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Kann eine im Interesse von Arbeitnehmern handelnde Gewerkschaft sich direkt auf Art. 47 der Grundrechtecharta als unmittelbare Rechtsquelle gegenüber einem Dienstleistungserbringer aus einem anderen Mitgliedstaat berufen, wenn die als Art. 47 zuwiderlaufend gerügte Bestimmung (Art. 84 des polnischen Arbeitsgesetzbuchs) eine rein nationale Vorschrift ist?

2. Folgt in einem Gerichtsverfahren wegen fälliger Forderungen im Sinne der Richtlinie 96/71/EG im Beschäftigungsstaat aus dem Unionsrecht, insbesondere aus dem sich aus Art. 47 der Grundrechtecharta sowie Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 der genannten Richtlinie ergebenden Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, ausgelegt in Verbindung mit der in Art. 12 der Grundrechtecharta garantierten Vereinigungsfreiheit im gewerkschaftlichen Bereich (Koalitionsfreiheit), dass das nationale Gericht eine Vorschrift des Arbeitsgesetzbuchs des Heimatstaats der Arbeitnehmer unangewendet lassen muss, die der Übertragung einer Lohnforderung auf eine Gewerkschaft des Beschäftigungsstaats zur Einziehung entgegensteht, wenn die entsprechende Vorschrift des Beschäftigungsstaats die Übertragung der fälligen Lohnforderung zur Einziehung und so der Klägerstellung auf die Gewerkschaft, der alle Arbeitnehmer angehören, die ihre Forderung zur Einziehung übertragen haben, zulässt?

3. Sind die Bestimmungen des Protokolls Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon dahin auszulegen, dass auch ein anderes als in Polen oder dem Vereinigten Königreich gelegenes nationales Gericht sie berücksichtigen muss, falls der fragliche Streit eine enge Verbindung zu Polen aufweist und insbesondere das auf die Arbeitsverträge anwendbare Recht das polnische Recht ist? Anders gesagt: Hindert das polnisch britische Protokoll ein finnisches Gericht an der Feststellung, dass Rechts  oder Verwaltungsvorschriften, eine Verwaltungspraxis oder Verwaltungsmaßnahmen Polens gegen die in der Grundrechtecharta proklamierten Grundrechte, Freiheiten und Grundsätze verstoßen?

4. Ist Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 593/2008 unter Berücksichtigung von Art. 47 der Grundrechtecharta dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es verboten ist, Forderungen und Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis zu übertragen?

5. Ist Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 593/2008 dahin auszulegen, dass das auf die Übertragung von Forderungen aus dem Arbeitsvertrag anwendbare Recht das Recht ist, das nach der Verordnung Nr. 593/2008 für den fraglichen Arbeitsvertrag gilt, ohne dass es darauf ankommt, ob auf den Inhalt eines einzelnen Anspruchs auch die Vorschriften eines anderen Rechts einwirken?

6. Ist Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen, dass der Begriff der Mindestlohnsätze Grundstundenlohn je nach Lohngruppe, Akkordgarantielohn, Urlaubsgeld, festes Tagegeld und eine Entschädigung für den täglichen Weg zur Arbeit (Wegezeitentschädigung) umfasst entsprechend der Festlegung dieser Arbeitsbedingungen in dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag, die unter den Anhang der Richtlinie fallen?

a) Sind die Art. 56 AEUV und 57 AEUV und/oder Art. 3 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindern, als sogenannter Gaststaat in ihren nationalen Rechtsvorschriften (allgemeinverbindlicher Tarifvertrag) Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten zu verpflichten, den in sein Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern Wegezeitentschädigung und Tagegeld zu zahlen, wenn man berücksichtigt, dass nach den in Bezug genommenen nationalen Rechtsvorschriften der entsandte Arbeitnehmer während der gesamten Dauer der Entsendung als im Rahmen einer Dienstreise tätig angesehen wird, so dass er Anspruch auf Entschädigung der Wegezeit und Tagegelder hat?

b) Sind die Art. 56 AEUV und 57 AEUV und/oder Art. 3 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen, dass sie es dem nationalen Gericht verwehren, einer etwaigen von einem Unternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat in seinem Heimatstaat geschaffenen und angewandten Lohngruppeneinteilung die Anerkennung zu versagen?

c) Sind die Art. 56 AEUV und 57 AEUV und/oder Art. 3 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen, dass sie es einem Arbeitgeber aus einem anderen Mitgliedstaat erlauben, wirksam und für das Gericht des Beschäftigungsstaats verbindlich die Einordnung der Arbeitnehmer in Lohngruppen festzulegen, wenn in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag des Beschäftigungsstaats eine vom Ergebnis her andere Einordnung in Lohngruppen vorgesehen ist,oder kann der Gastmitgliedstaat, in den die Arbeitnehmer des aus dem anderen Mitgliedstaat stammenden Dienstleistungserbringers entsandt worden sind, dem Dienstleistungserbringer vorschreiben, welche Bestimmungen er bei der Einordnung der Arbeitnehmer in die Lohngruppen zu beachten hat?

d) Sind bei der Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AUEV und 57 AEUV die Übernahme der Unterbringungskosten, zu der der Arbeitgeber aufgrund des in Frage 6 erwähnten Tarifvertrags verpflichtet ist, und die Gewährung der Essensgutscheine, die der aus einem anderen Mitgliedstaat stammende Dienstleistungserbringer nach dem Arbeitsvertrag austeilt, als Entschädigung für durch die Entsendung entstandene Kosten anzusehenoder fallen sie unter den Begriff der Mindestlohnsätze im Sinne von Art. 3 Abs. 1?

e) Ist Art. 3 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit den Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen, dass ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag des Beschäftigungsstaats bei der Auslegung der Frage nach der Akkordentlohnung, der Wegezeitentschädigung und den Tagegeldern als durch Erfordernisse der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt angesehen werden muss?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 5

19 Mit seinen Fragen 1 bis 5, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 96/71, ausgelegt im Licht des Art. 47 der Grundrechtecharta, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet, dass eine Regelung des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt hat, seinen Sitz hat, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft wie Sähköalojen ammattiliitto daran hindern kann, bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, eine Klage zu erheben, um die auf sie übertragenen Lohnforderungen dieser entsandten Arbeitnehmer einzuziehen.

20 Hierzu ist festzustellen, dass sich nicht nur aus den Informationen, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, sondern auch aus den Antworten auf die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof gestellten Fragen ergibt, dass sich die Klagebefugnis von Sähköalojen ammattiliitto vor dem vorlegenden Gericht nach dem finnischen Verfahrensrecht bestimmt, das nach dem Grundsatz der lex fori anwendbar ist. Im Übrigen ist unstreitig, dass die Klägerin nach finnischem Recht befugt ist, im Namen der entsandten Arbeitnehmer zu klagen.

21 Somit spielt die Vorschrift des polnischen Arbeitsgesetzbuchs, auf die sich ESA beruft, für die Klagebefugnis von Sähköalojen ammattiliitto vor dem vorlegenden Gericht keine Rolle und berührt nicht deren Recht, Klage beim Satakunnan käräjäoikeus zu erheben.

22 Im Übrigen geht es in dem Ausgangsrechtsstreit um die Bestimmung der Tragweite des Begriffs „Mindestlohnsatz“ im Sinne der Richtlinie 96/71, auf den die nach Finnland entsandten polnischen Arbeitnehmer Anspruch haben.

23 Aus Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 ergibt sich eindeutig, dass sich Fragen, die den Mindestlohnsatz im Sinne dieser Richtlinie betreffen, unabhängig von dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht nach dem Recht des Mitgliedstaats bestimmen, in den die Arbeitnehmer zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung entsandt sind, hier also der Republik Finnland.

24 Darüber hinaus ergibt sich u. a. aus dem Wortlaut der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts, dass die Abtretung der Lohnforderungen an Sähköalojen ammattiliitto zur Einziehung für die entsandten Arbeitnehmer mit dem finnischen Recht im Einklang steht und dass außerdem das polnische Unternehmen, das diese Arbeitnehmer eingestellt hat, in Finnland eine Zweigniederlassung hat, an die die Arbeitnehmer entsandt wurden.

25 Unter diesen Umständen besteht hier entgegen dem Vorbringen von ESA vor dem vorlegenden Gericht kein Grund, der geeignet wäre, die Klage, die die Sähköalojen ammattiliitto beim Satakunnan käräjäoikeus erhoben hat, in Frage zu stellen.

26 Auf die Fragen 1 bis 5 ist daher zu antworten, dass die Richtlinie 96/71, ausgelegt im Licht des Art. 47 der Grundrechtecharta, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet, dass eine Regelung des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt hat, seinen Sitz hat, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft wie Sähköalojen ammattiliitto daran hindern kann, bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, eine Klage zu erheben, um für die entsandten Arbeitnehmer auf sie übertragene Lohnforderungen einzuziehen, bei denen es um den Mindestlohn im Sinne der Richtlinie 96/71 geht, da diese Übertragung im Einklang mit dem in diesem anderen Mitgliedstaat geltenden Recht steht.

Zur Frage 6

27 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, vom Mindestlohn Lohnbestandteile auszunehmen, die sich wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus dem Begriff „Grundstundenlohn oder Akkordgarantielohn je nach Lohngruppe“, der Gewährung von Urlaubsgeld, Tagegeld, einer Wegezeitentschädigung und einer Entschädigung für die Unterbringungskosten ergeben, die in einem unter den Anhang dieser Richtlinie fallenden Tarifvertrag festgelegt sind, der in dem Mitgliedstaat, in den die Arbeitnehmer entsandt werden, allgemeinverbindlich ist, oder die, wie die Ausgabe von Essensgutscheinen, im Herkunftsstaat in dem Arbeitsverhältnis zwischen den entsandten Arbeitnehmern und ihrem Arbeitgeber vorgesehen sind.

28 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber die Richtlinie 96/71 erlassen hat, um, wie aus dem sechsten Erwägungsgrund hervorgeht, im Interesse der Arbeitgeber und ihres Personals die für das Arbeitsverhältnis geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, wenn ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend Arbeitnehmer in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsendet (Urteile Laval un Partneri, C 341/05, EU:C:2007:809, Rn. 58, und Isbir, C 522/12, EU:C:2013:711, Rn. 33).

29 Um sicherzustellen, dass ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz beachtet wird, sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 daher vor, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die Unternehmen im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der in dieser Vorschrift aufgeführten Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren (Urteil Laval un Partneri, EU:C:2007:809, Rn. 73).

30 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 eine doppelte Zielsetzung verfolgt.Zum einen bezweckt diese Vorschrift, zwischen inländischen Unternehmen und Unternehmen, die länderübergreifende Dienstleistungen erbringen, einen lauteren Wettbewerb sicherzustellen, da sie die letztgenannten Unternehmen dazu verpflichtet, ihren Arbeitnehmern für eine begrenzte Liste von Aspekten die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zuzuerkennen, die im Aufnahmemitgliedstaat festgelegt worden sind.Zum anderen bezweckt sie, für die entsandten Arbeitnehmer sicherzustellen, dass bei den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die genannten Aspekte die Regeln über den Mindestschutz dieses Mitgliedstaats angewandt werden, während die Arbeitnehmer vorübergehend im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätig sind (Urteil Laval un Partneri, EU:C:2007:809, Rn. 74 und 76).

31 Diese Richtlinie hat jedoch nicht den materiell-rechtlichen Inhalt dieser zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz harmonisiert, auch wenn sie einige Informationen hierzu liefert.

32 So verweist zum einen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 zum Zweck dieser Richtlinie für die Bestimmung der Mindestlohnsätze im Sinne ihres Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 ausdrücklich auf die Rechtsvorschriften oder Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird (Urteil Isbir, EU:C:2013:711, Rn. 36).

33 Zum anderen bestimmt Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 dieser Richtlinie in Bezug auf die Entsendungszulagen, inwieweit diese Lohnbestandteile im Rahmen der in Art. 3 der Richtlinie festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen als Bestandteil des Mindestlohns gelten.

34 Aus welchen Bestandteilen sich für die Anwendung dieser Richtlinie der Mindestlohn zusammensetzt, ist daher, vorbehaltlich der Vorgaben in Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71, im Recht des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt wird, festzulegen, wobei diese Definition, wie sie sich aus den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften oder Tarifverträgen oder ihrer Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte ergibt, allerdings nicht zu einer Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen darf (Urteil Isbir, EU:C:2013:711, Rn. 37).

35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für einige Lohnbestandteile bereits entschieden hat, dass sie nicht als Bestandteil des Mindestlohns einzustufen sind.

36 So können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Zulagen und Zuschläge, die nicht durch die Rechtsvorschriften oder die Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, als Bestandteile des Mindestlohns definiert werden und die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht aufgrund der Richtlinie 96/71 als derartige Bestandteile betrachtet werden (Urteile Kommission/Deutschland, C 341/02, EU:C:2005:220, Rn. 39, und Isbir, EU:C:2013:711, Rn. 38).

37 Die verschiedenen Lohnbestandteile, die das vorlegende Gericht angeführt hat, sind im Licht der vorstehenden Erwägungen zu prüfen, um zu bestimmen, ob sie Bestandteile des Mindestlohns im Sinne des Art. 3 der Richtlinie 96/71 sind.

Garantierter Stundenlohn und/oder Akkordgarantielohn je nach Lohngruppeneinteilung der Arbeitnehmer

38 Um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, wie sie nach den einschlägigen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, entgegensteht.

39 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Formulierung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 ausdrücklich ergibt, dass der Mindestlohnsatz durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt wird, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.Diese Formulierung impliziert, dass die Art und Weise der Berechnung des Mindestlohnsatzes und die dafür herangezogenen Kriterien ebenfalls in die Zuständigkeit des Aufnahmemitgliedstaats fallen.

40 Aus dem Vorstehenden ergibt sich erstens,dass nach den im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft befindlichen Vorschriften festgelegt werden kann, ob die Berechnung des Mindestlohns auf Stunden- oder auf Akkordbasis erfolgen muss. Um jedoch dem Arbeitgeber, der seine Arbeitnehmer in diesen Mitgliedstaat entsendet, entgegengehalten werden zu können, müssen diese Vorschriften zwingend sein und den Anforderungen an die Transparenz entsprechen, was insbesondere bedeutet, dass sie zugänglich und klar sein müssen.

41 Somit kann der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer entsendet, in Anwendung dieser Kriterien den anhand der maßgeblichen Tarifverträge berechneten Mindestlohn nicht frei wählen, nur um Arbeitskosten anzubieten, die niedriger sind als die der einheimischen Arbeitnehmer.

42 Im Ausgangsverfahren ist es Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die nach den maßgeblichen Tarifverträgen angewandten Regeln für die Berechnung des Mindestlohns zwingend und transparent sind.

43 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zweitens, dass die Vorschriften über die Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, die im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage verschiedener Kriterien angewandt werden, wie etwa der Qualifikation, der Ausbildung und der Erfahrung der Arbeitnehmer und/oder der Art der von ihnen ausgeübten Tätigkeit, an die Stelle der Vorschriften treten, die im Herkunftsmitgliedstaat auf die entsandten Arbeitnehmer anwendbar sind.Erst im Rahmen eines Vergleichs zwischen den in Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die im Herkunftsmitgliedstaat Anwendung finden, und denen, die im Aufnahmemitgliedstaat gelten, muss die durch den Herkunftsmitgliedstaat vorgenommene Einteilung berücksichtigt werden,wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger ist.

44 Um jedoch dem Arbeitgeber, der Arbeitnehmer entsendet, entgegengehalten werden zu können, müssen die im Aufnahmemitgliedstaat angewandten Vorschriften über die Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen auch zwingend sein und den Anforderungen an die Transparenz entsprechen, was insbesondere bedeutet, dass sie zugänglich und klar sein müssen. Es ist Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind.

45 Nach allen diesen Erwägungen ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist,dass er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, nicht entgegensteht, sofern diese Berechnung und diese Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werden, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist.

Tagegeld

46 Zu der Frage, ob ein Tagegeld wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestandteil des Mindestlohns im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 96/71 ist, ist darauf hinzuweisen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass die maßgeblichen Tarifverträge in Finnland die Zahlung eines Tagegelds an entsandte Arbeitnehmer vorsehen. Nach diesen Tarifverträgen ist dieses Tagegeld als tägliche Zahlung eines festen Betrags ausgestaltet, der sich während des maßgeblichen Zeitraums auf 34 Euro bis 36 Euro belief.

47 Aus den Akten ergibt sich, dass dieses Tagegeld den Arbeitnehmern nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten im Sinne von Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 gezahlt wird.

48 Dieses Tagegeld soll nämlich den sozialen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer gewährleisten, indem es die Nachteile ausgleicht, die ihnen durch die Entsendung aufgrund der Entfernung von ihrem gewohnten Umfeld entstehen.

49 Somit ist dieses Tagegeld als „Entsendungszulage“ im Sinne von Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 einzustufen.

50 Nach dieser Bestimmung ist diese Zulage Bestandteil des Mindestlohns.

51 Unter diesen Umständen ist dieses Tagegeld entsandten Arbeitnehmern wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im gleichen Umfang zu zahlen wie einheimischen Arbeitnehmern bei einer Entsendung innerhalb Finnlands.

52 Nach dem Vorstehenden ist festzustellen, dass ein Tagegeld wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den gleichen Bedingungen als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen ist, wie sie für seine Einbeziehung in den Mindestlohn gelten, der einheimischen Arbeitnehmern bei ihrer Entsendung innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt wird.

Wegezeitentschädigung

53 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die vorgelegte Frage, soweit sie die Wegezeitentschädigung betrifft, nicht auf den Ausgleich für die Kosten abzielt, die den Arbeitnehmern für den Weg zu ihrem Arbeitsort und zurück entstehen, sondern nur darauf, ob Art. 3 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass ein Ausgleich für die tägliche Pendelzeit als Bestandteil des Mindestlohns dieser Arbeitnehmer anzusehen ist.

54 Nach den einschlägigen Bestimmungen der finnischen Tarifverträge wird den Arbeitnehmern eine Wegezeitentschädigung gezahlt, wenn ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt.

55 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass für die Berechnung dieser Pendelzeit die Zeit zu ermitteln ist, die die betreffenden entsandten Arbeitnehmer im konkreten Fall tatsächlich für den Weg von dem Ort, an dem sie in Finnland untergebracht sind, zu ihrer Arbeit auf der Baustelle in diesem Mitgliedstaat aufgewandt haben. Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, anhand der Tatsachen des Ausgangsverfahrens zu entscheiden, ob das nach den in Finnland für die Zahlung einer Wegezeitentschädigung geltenden Vorschriften vorgesehene Erfordernis betreffend die Dauer des Weges von den betreffenden Arbeitnehmern erfüllt wird.

56 In Anbetracht dessen ist eine solche Wegezeitentschädigung, da sie nicht als Erstattung von Kosten, die dem Arbeitnehmer infolge der Entsendung tatsächlich entstanden sind, gezahlt wird, gemäß Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 als Entsendungszulage und somit als Bestandteil des Mindestlohns zu betrachten.

57 Daher ist eine Wegezeitentschädigung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die den Arbeitnehmern unter der Voraussetzung gezahlt wird, dass ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt, als Bestandteil des Mindestlohns der entsandten Arbeitnehmer anzusehen, sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist.

Übernahme der Unterbringungskosten

58 Zu der Frage, ob Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Übernahme der Kosten für die Unterbringung der betreffenden Arbeitnehmer als Bestandteil ihres Mindestlohns anzusehen ist, ist festzustellen, dass dies nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 7 dieser Richtlinie nicht in Betracht kommt.

59 Auch wenn nach diesem Wortlaut nur die Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Unterbringungskosten ausgeschlossen ist, und ESA nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen diese Kosten der betreffenden Arbeitnehmer übernommen hat, ohne dass diese sie vorstrecken und ihre Erstattung beantragen mussten, spielt die von ESA gewählte Art der Kostenübernahme keine Rolle für die rechtliche Qualifizierung dieser Kosten.

60 Darüber hinaus erlaubt es, wie der Generalanwalt in Nr. 111 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bereits der Zweck des Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 96/71 nicht, bei der Berechnung des Mindestlohns der entsandten Arbeitnehmer die Kosten für ihre Unterbringung zu berücksichtigen.

Essensgutscheine

61 Zur Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV hinsichtlich des Begriffs „Mindestlohn“ im Hinblick auf die Berücksichtigung von Essensgutscheinen, die den betreffenden Arbeitnehmern von ESA ausgegeben wurden, ist darauf hinzuweisen, dass die Ausgabe dieser Gutscheine weder auf Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats noch auf den einschlägigen Tarifverträgen, auf die sich Sähköalojen ammattiliitto beruft, beruht,sondern auf das zwischen den entsandten Arbeitnehmern und ihrem Arbeitgeber ESA in Polen begründete Arbeitsverhältnis zurückgeht.

62 Darüber hinaus werden diese Zulagen ebenso wie die als Ausgleich für die Unterbringungskosten gezahlten Zulagen gezahlt, um die den Arbeitnehmern infolge ihrer Entsendung tatsächlich entstandenen Lebenshaltungskosten zu erstatten.

63 Somit geht bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 96/71 klar hervor, dass diese Zulagen nicht als Bestandteil des Mindestlohns im Sinne von Art. 3 dieser Richtlinie angesehen werden dürfen.

Vergütung, die während des Urlaubs gezahlt wird

64 Was den Anspruch auf eine Vergütung während des Urlaubs betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtechartajeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat.

65 Dieses in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9) näher bezeichnete Recht, von dem diese Richtlinie keine Abweichung zulässt, räumt jedem Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen ein.Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der nach ständiger Rechtsprechung als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, wird somit jedem Arbeitnehmer unabhängig von seinem Beschäftigungsort innerhalb der Union gewährt (vgl. in diesem Sinne Urteile Schultz-Hoff u. a., C 350/06 und C 520/06, EU:C:2009:18, Rn. 54, sowie Lock, C 539/12, EU:C:2014:351, Rn. 14).

66 Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs klar hervor, dass der in Art. 31 der Grundrechtecharta und in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 enthaltene Begriff des „bezahlten Jahresurlaubs“ bedeutet, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Vorschriften weiterzugewähren ist und dass der Arbeitnehmer mit anderen Worten für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten muss (vgl. Urteile Robinson-Steele u. a., C 131/04 und C 257/04, EU:C:2006:177, Rn. 50, und Lock, EU:C:2014:351, Rn. 16).

67 Nach dieser Rechtsprechung behandelt die Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts nämlich als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs. Durch das Erfordernis der Zahlung des Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl. Urteil Lock, EU:C:2014:351, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68 Daher ist, wie der Generalanwalt in Rn 89 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vergütung, die der Arbeitnehmer während des Urlaubs erhält, untrennbar mit der Vergütung verbunden, die er als Gegenleistung für die erbrachte Arbeit erhält.

69 Folglich ist Art. 3 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen, dass die Mindestvergütung, die dem Arbeitnehmer gemäß Art. 3 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich Buchst. b dieser Richtlinie für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs zu gewähren ist, dem Mindestlohn entspricht, auf den dieser Arbeitnehmer im Referenzzeitraum Anspruch hat.

70 ach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. Abs. und 7 der Richtlinie 96/71 im Licht der Art. 6 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass

er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, nicht entgegensteht, sofern diese Berechnung und diese Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werden, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

ein Tagegeld wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den gleichen Bedingungen als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen ist, wie sie für seine Einbeziehung in den Mindestlohn gelten, der einheimischen Arbeitnehmern bei ihrer Entsendung innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt wird;

eine Entschädigung für die tägliche Pendelzeit, die den Arbeitnehmern unter der Voraussetzung gezahlt wird, dass ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt, als Bestandteil des Mindestlohns der entsandten Arbeitnehmer anzusehen ist, sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

die Übernahme der Kosten für die Unterbringung dieser Arbeitnehmer nicht als Bestandteil ihres Mindestlohns anzusehen ist;

eine Zulage in Form von Essensgutscheinen, die an diese Arbeitnehmer ausgegeben werden, nicht als Bestandteil ihres Mindestlohns angesehen werden darf, und

die Vergütung, die den entsandten Arbeitnehmern für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs zu gewähren ist, dem Mindestlohn entspricht, auf den diese Arbeitnehmer im Referenzzeitraum Anspruch haben.

Kosten

71 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet es die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dass eine Regelung des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt hat, seinen Sitz hat, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft wie die Sähköalojen ammattiliitto ry daran hindern kann, bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, eine Klage zu erheben, um für die entsandten Arbeitnehmer auf sie übertragene Lohnforderungen einzuziehen, bei denen es um den Mindestlohn im Sinne der Richtlinie 96/71 geht, da diese Übertragung im Einklang mit dem in diesem anderen Mitgliedstaat geltenden Recht steht.

2. Art. 3 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 96/71 ist im Licht der Art. 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen, dass

er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohnsauf der Grundlage der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, nicht entgegensteht,sofern diese Berechnung und diese Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werden, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

ein Tagegeld wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den gleichen Bedingungen als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen ist, wie sie für seine Einbeziehung in den Mindestlohn gelten, der einheimischen Arbeitnehmern bei ihrer Entsendung innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt wird;

eine Entschädigung für die tägliche Pendelzeit, die den Arbeitnehmern unter der Voraussetzung gezahlt wird, dass ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt, als Bestandteil des Mindestlohns der entsandten Arbeitnehmer anzusehen ist, sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

die Übernahme der Kosten für die Unterbringung dieser Arbeitnehmernicht als Bestandteil ihres Mindestlohns anzusehen ist;

eine Zulage in Form von Essensgutscheinen, die an diese Arbeitnehmer ausgegeben werden, nicht als Bestandteil ihres Mindestlohns angesehen werden darf, und

die Vergütung, die den entsandten Arbeitnehmern für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs zu gewähren ist, dem Mindestlohn entspricht, auf den diese Arbeitnehmer im Referenzzeitraum Anspruch haben.